In meinem Blogpost Dann klappt’s auch habe ich euch davon erzählt, wie mich das Buch von Maria Bachmann erreicht und bewegt hat. Ich freue mich sehr darüber, dass Maria sich sofort bereit erklärte, mir noch einige Fragen zu ihrer Autobiografie zu beantworten. Hier also das Interview mit der Autorin und Schauspielerin – exklusiv in Zeit für Rosen!
Liebe Maria, meine erste Frage bezieht sich auf den Buchtitel: Warum hast du gerade diesen Titel gewählt? Was verbindest du damit?
Den Satz „Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast“ kennen viele von uns. Da klingt etwas an, was wir nicht genau einordnen konnten und was uns eher ein schlechtes Gewissen eingeflößt hat, statt uns fürs Leben stark zu machen. Dieser und andere Sätze, wie z. B. „Du wirst dich noch umgucken“, „Du hast keine Ahnung vom Ernst des Lebens“, „Was bildest du dir ein!“ aus dieser Zeit haben uns eingeschüchtert. Oft so sehr, dass wir unsere Träume, Ideen, Ziele – ja, sogar uns selbst – völlig unbewusst vernachlässigt haben und in unserem freien Denken eingeschränkt haben. Viele, auch ich, haben sich klein gemacht, untergeordnet. Unsere Eltern und Verwandten hatten guten Grund, uns diese Leitsätze mitzugeben, da sie aus der angstmachenden Erfahrung des Krieges, der Nachkriegszeit und der strengen Erziehung, die sie selbst erlebt haben, gesprochen haben. Sie konnten nicht ahnen, welche Wirkung solche begrenzenden Anschauungen heute noch auf die längst erwachsenen Kinder haben können.
Welche Glaubens- und Leitsätze von damals haben dich auch noch besonders geprägt?
Da fallen mir noch viele ein. „Was sollen die Nachbarn denken!“, „Wir leben um zu arbeiten“, „Lach nicht so laut“, „Warte nur, bis der Vater heimkommt“, „Sei nicht so eingebildet“, „Der liebe Gott sieht alles“, „Tanz nicht aus der Reihe“, „Was weißt du denn schon“, usw. Einem Kind wurde nicht auf Augenhöhe begegnet. Das hat uns geprägt. Und möglicherweise bremst es uns heute noch immer ungefiltert aus, dass wir nicht das gute Leben führen, das wir uns eigentlich gewünscht haben.
Das Leben mit beiden Händen packen
Ich bekomme viele Zuschriften von Lesern, die genau das schreiben: dass sie jetzt, in der Lebensmitte merken, dass ihnen etwas fehlt: die ureigene Lebensgestaltung, die Freiheit, mutige Entscheidungen zu treffen, ganz selbstbestimmt zu sein. Sie merken, dass sie jahrelang immer noch von frühen Leitsätzen und den entsprechenden Verhaltensweisen bestimmt waren. Das ist einerseits schmerzlich, andererseits ist es die wunderbare Chance, jetzt das Leben mit beiden Händen zu packen und zu überprüfen: was will ich heute? Was kann ich ändern? Diese Reflexionsarbeit konnten unsere Eltern damals unmöglich bringen. Sie waren mit Überleben und Neuanfang, Familienaufbau beschäftigt. Niemand redete von Kriegstraumatisierung. Es gab keine Hilfe. Für uns gibt es heute Unterstützung auf allen Ebenen, um den Kreislauf zu beenden: Bücher, Meditation, Therapie, Coaching, innere Einkehr, Selbsterfahrung. Oder allein nur ein offener Austausch mit Freunden. Was unsere Eltern verschweigen mussten, müssen wir nicht weiter führen. Wir dürfen über alles, wirklich alles sprechen und müssen uns für nichts schämen. Das Leben ist zu kurz, um nicht selbstbestimmt zu leben. Dazu möchte ich ermutigen. Ich halte nichts von Selbstoptimierung, aber ich halte viel von Selbstbefreiung.
Du sprichst in deinem Buch von einem „Mädchen aus 100 Teilen“. Was genau meinst du damit?

Viele aus unserer Generation haben eine Kindheit erlebt, in der emotionaler Rückhalt, Umarmungen, Unterhaltungen auf Augenhöhe gefehlt haben. Es gab mehr Regeln als Erlaubnis. Der Fokus lag auf Pflichterfüllung, nicht auf Lebensqualität. Die Eltern haben zwar geliebt, aber sie konnten es aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen nicht zeigen. Ein Kind tut aber alles, um die Liebe der Eltern zu erringen. Ich habe mich als Kind stark angepasst, um so zu sein, wie sie mich wollten: mir gefiel, was ihnen gefiel, ich lehnte ab, was sie ablehnten. Das Augenmerk war zum Großteil auf die Außenwelt gerichtet, um ja nichts falsch zu machen: „Wie komme ich an, wie werde ich gesehen, werde ich endlich gesehen?“ Ich glaubte, wenn ich ein „liebes Mädchen“ bin, lieben sie mich. Doch auf diese Art, „verliert“ man sich, ist angespannt, wird wurzellos und verliert Vertrauen in sich und die Welt. Es war nahezu unmöglich, einfach nur man selbst zu sein.
An anderer Stelle willst du den „Größenwahn kultivieren“. Trifft das auf dein heutiges Ich auch noch zu?
Nein, das habe ich glücklicherweise hinter mir! 🙂 Was für ein Luxus! Aber es ist ein wichtiges Thema. Wenn man seine Gefühle und sich selbst lange verstecken muss, um geliebt zu werden, und man sich dadurch nicht wirklich „fühlen“ kann, ist man fremdbestimmt. Man sucht möglicherweise „Kicks“, die einen lebendig fühlen lassen, in denen man sich in irgendeiner Weise spürt. Ich wollte Kontrolle über mein Leben und dachte: nur, wenn ich erfolgreich bin, kann ich mich selbst ertragen. Es können aber auch Arten von Süchten entstehen, auch Alkohol, Internet, Beziehungssucht, Ernährungsstörungen, Narzissmus. In vielerlei Hinsicht sind es die Auswirkungen eines Ringens um Wahrhaftigkeit und Problembewältigung. Es ist ein Bemühen „jemand sein“ zu wollen, weil man eigentlich davon überzeugt ist, man sei nichts wert oder nicht gut genug.
Wann hast du begonnen, dich mit dem Thema Kriegsenkel auseinanderzusetzen? Und wie bist du darauf gekommen?
Ich hatte als Schauspielerin Erfolg, hatte Bücher und Drehbücher geschrieben, war aber nicht glücklich. Ich war um die 40, als ich merkte, ich muss mich um mich selbst kümmern, damit es mir besser geht. Ich hatte Schlafstörungen, ungute Beziehungen, Panikattacken, Phasen von Einsamkeit und Depression. Ich sage das offen, denn es muss Schluss damit sein, dass dieses Thema verschwiegen wird. Depression ist auch die Folge von unterdrückten Gefühlen und unbearbeiteter Vergangenheit. Andere Leute werden körperlich krank. Der Körper gibt Zeichen und ruft nach Hilfe und liebevoller Auseinandersetzung. Das Thema geht sogar über das gängige Kriegsenkelthema hinaus und ist nun meiner Meinung nach ein Gesellschaftsthema.
Unserer Kriegsenkel-Generation wird eine hohe Loyalität den Eltern gegenüber zugesprochen. Hast du mit deinen Eltern, bevor sie starben, noch Gespräche über deine Kindheit führen können? Oder gab es von deiner Seite einen Loyalitätskonflikt, d.h. du hast dich evtl. mit solchen Fragen zurückgehalten?
In Anbetracht dessen, was die Kriegsgeneration erlebt hat, erscheinen die eigenen daraus resultierenden Probleme als nichtig. Ich finde es aber ganz wichtig, dass wir sie ernst nehmen dürfen, ebenso, wie die Themen der Vorfahren. Ich habe mit meiner Mutter glücklicherweise darüber sprechen können. Sie glaubte, sie hat bei mir einiges falsch gemacht. Ich sagte ihr, dass sie aus einer Zeit kommt, wo sie selbst nichts an Geborgenheit und Rückhalt bekommen hat. Das konnte ich, weil ich zu der Zeit sehr viel Arbeit an mir selbst hinter mir hatte und nichts mehr von meinen Eltern erwartet habe.
Wir können uns von alten Belastungen befreien.
Viele unserer Eltern hatte nie die Gelegenheit, sich zu reflektieren. Man hat gearbeitet und die Schäfchen ins Trockene gebracht. Das war mehr als genug. Aber wir können es heute tun und uns von alten Belastungen befreien.
Was hat sich nach deinem „Ausbruch“, nach deiner „Befreiung“ für dich geändert?
Die Veränderung geht ja weiter. Ich fühle mich „rund“ mit mir. Ich fühle mich selbstbestimmt und kann mich und natürlich auch meine Eltern gut verstehen. Ich habe Beziehungen auf Augenhöhe, umgebe mich mit Menschen, die mir gut tun. Ich habe gelernt, emphatisch zu sein und kann besser Grenzen ziehen. Das sind alles Themen unserer Generation, bei denen sich viele schwer tun. Und ich kann mich manchen Dingen, die sich nie ändern werden, besser leben. Auch das ist wichtig.
Möchtest du meinen Followern und Followerinnen noch etwas mit auf den Weg geben?
Es lohnt sich, in jedem Alter eingetretene Pfade dahingehend zu überprüfen, ob sie selbst gewählt sind oder nicht. Es ist möglich, das Lebensruder nochmal in eine andere Richtung zu bewegen. In großen wie in kleinen Dingen. Wir dürfen unser Leben wirklich genießen. Wir können heute über alles reden, müssen nichts mehr verschweigen und wir dürfen ganz wir selbst sein. Was für eine Möglichkeit zur Selbstbefreiung! Dazu möchte ich mit meinem Buch inspirieren.
Vielen Dank, liebe Maria, für dieses interessante Interview! Mich jedenfalls hast du erreicht und inspiriert! 🤗
Vielen Lieben Dank Euch beiden!
Ich habe mich in Eurem Gespraech gut finden koennen und gefreut zu lesen/hoeren dass alles an- und ausgesprochen werden darf. Und das wir als Kriegsenkel zwei wichtige Geburtsrecht haben. Erstens, es uns gut gehen zu lassen. Und zweitens, das wir gelitten haben – auch wenn es keine Kriegsleiden waren, so gab/gibt es uns dennoch Schmerzen die ebenso viel Platz haben duerfen wie Kriegsleiden.
Einen schoenen Dank fuer’s Mut machen.
Hat mich gefreut,
Andrea Bosbach
Sehr gerne, liebe Andrea! Ich fand es auch spannend zu erfahren, wie weit diese Art von Kriegsleiden noch in die nächsten Generationen hineinreichen.